Santiago bereitet sich auf 2021 vor

Von außen strahlt sie schon, von innen bleibt sie noch das ganze Jahr über eine Giga-Baustelle. Die Kathedrale von Santiago de Compostela soll ab dem 1. Januar 2021 ein komplettes Facelifting hinter sich haben. Die Massen kommen im sogenannten Heiligen Jahr. Ist das der endgültige Bruch mit der Pilgertradition? Darüber haben wir mit einem Priester und einem Politiker gesprochen.

Von Tobias Büscher

Wer derzeit Santiago de Compostela besucht, wundert sich. Kein Mensch mit Stab und Jakobsmuschel taucht in der Oficina de Peregrinos auf. Die Nonnen mit den Regenschirmen laufen alleine über den Platerías-Platz. Die Tavernen in den Gassen Franco und Vilar sind leer. Die Anwohner der Pilgerstadt tiefenentspannt. Die Souvenirhändler arbeitslos. Und die beiden Haupttürme der Wallfahrtskathedrale sind jetzt schon strahlend weiß. Hochglanzgranit für das kommende Event. Die Patina ist ab.

Millionen für die Massen

Das ganze Jahr über bleibt das Innere der Kathedrale eine Baustelle. Für 2,6 Millionen Euro werden die Wände geglättet, die Statuen poliert und das Glas gereinigt. Ein weiteres Problem ist das Dach des Hauptschiffes. Wegen des winterlichen Regens. Das Instandsetzen kostet die Galicier laut El País noch weitere 1,9 Millionen. Insgesamt belaufen sich die Investitionen, bezahlt vom Wirtschaftsministerium, der Lokalregierung Xunta de Galicia und der Santiago-Stiftung, auf rund 18 Mio. Euro. Tatsächlich haben die Arbeiten sogar schon vor fünf Jahren begonnen. Als die Restauratoren das romanische Prachttor Pórtico de la Gloria Figur für Figur säuberten.

Alles soll fertig sein, wenn ab Januar 2021 wieder das Heilige Jahr ansteht und mutmaßlich auch der Papst kommt. Das Heilige Jahr, weil der Tag des Apostels (25.Juli) auf einen Sonntag fällt. Dann herrscht Hochbetrieb auf dem Camino. Es gibt nicht genug Pilgerherbergen für solche Massen. Und die Hotels rund um Santiago freuen sich auch. Der Tourismusbeauftragte Galiciens, Roman Rodríguez, rechnet ganz realistisch mit über 600.000 Besuchern. Das ist Rekord. Sogar für Santiago.

Priester und Politiker über den Pilgerboom

Längst gibt es Streit über den Sinn der populären Wallfahrt nach Santiago. Massenandrang wirkt immer. Auch in Santiago. So ist das Haupttor der Kathedrale mit eben diesem Pórtico de la Gloria nicht mehr zugänglich. Wer es sehen möchte, geht durch den Nebeneingang und zahlt 10 Euro. Das soll die Architektur schützen. Lokaljournalisten fragen sich, wie die kleine Altstadt aus Granit eigentlich so viele Besucher aushalten soll. So viele wie Zaragoza, die Hauptstadt Aragóns, Einwohner hat. 

350.000 Pilger hat das Büro in Santiago bereits 2019 gezählt. Zum Vergleich: In den 1970er Jahren kamen pro Jahr noch so viele Menschen, dass sie in eine einzige Telefonzelle gepasst hätten. Vor Ort haben meine Kollegin Ina und ich vor wenigen Tagen einen Politiker und einen Priester zu dem Thema interviewt. Ihre Ansichten können unterschiedlicher nicht sein.

Der Priester heißt Marcos Torres aus Lalín südöstlich der Hauptstadt Galiciens. Dort, wo der sogenannte Winterweg Camino del Invierno nach Santiago führt. Er ist Anfang 30, rhetorisch geschult und einstiger Mitarbeiter der Zeitung ABC. Auf die Frage, warum die Kirche eigentlich ein „Heiliges Jahr“ ausruft, wo Pilgern doch auch in einem anderen Jahr sinnvoll sein könne, antwortet der Geistliche: „Wer ein Kind über das Jahr großzieht, liebt es auch jeden Tag. Aber einer ist besonders, der Geburtstag“. Man brauche konkrete Daten und Termine, auch die Katholische Kirche brauche das. Das biete Orientierung. Und noch etwas findet Marcos entscheidend: Nicht der Jakobsweg sei wichtig. Sondern der, der auf ihm läuft. Pilgermassen findet er bedenklich, doch durch seine Stadt Lalín kommt ohnehin nur vereinzelt mal ein Deutscher. Marcos hat übrigens festgestellt: "Wir Spanier pilgern immer in der Gruppe, ihr aus Deutschland meistens allein."

Der Politiker wiederum heißt Víctor Vázquez Portomeñe. Er ist über 80 Jahre alt, nach wie vor ein PR-Fuchs und seit jeher ein charmanter Typ. Was kaum einer weiß: Den Jakobsboom hat er verursacht. Und zwar er alleine. Anfang der 90er Jahre schrieb er in der Kneipe Gato Negro in Santiago ein paar Begriffe auf eine Serviette: „Xacobeo, 1993, Heiliges Jahr, Marketing“. Víctor jettete um die halbe Welt und machte Werbung für das Jahr 1993. Das Jahr, nachdem Spanien die Entdeckung Amerikas feierte, die Olympiade in Barcelona und die Kulturhauptstadt Madrid. 

Eigentlich, sagt Victor, habe er Galicien insgesamt berühmt machen wollen. Er wollte Touristen in den entlegenen Nordwesten locken: Damit sie die Wildpferde sehen, die Klippen am Atlantik, die Fischhallen und natürlich auch Santiago. Doch durch seine Initiative hat einzig der Jakobsweg selbst einen Boom erlebt. Von den Pyrenäen über Santiago bis hin nach Finisterre.

Die Geister, die er rief

Was war passiert? Erst lud er die Journalisten ein, dann kamen die Autoren wie Hape Kerkeling und schrieben drüber. Erst bekamen die Zeitungsredakteure beste Unterkünfte in Landhäusern, Fisch vom Feinsten und die größten Mietautos. Dann schrieben sie darüber und alle bekamen es mit. Von Tokio über Berlin bis Rio de Janeiro. Mit solchen Menschenmengen wie heute hat Víctor damals natürlich trotzdem nicht gerechnet. Gut findet er es aber schon. Kleine Orte wie Palas de Rei am Camino hätten ohne den Boom wohl kaum überlebt. Und so freut sich der Altstar der konservativen Politik auf das kommende Jahr. Wenn alle nach Santiago wandern. Nur er nicht. Víctor Vázquez Portomeñe ist noch nie einen einzigen Meter auf dem Jakobsweg gelaufen: 

„Ich habe doch ein Auto.“

 

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