Wandler der Form – Javier Marías
Aus deutschen Feuilletons bekannt als der große spanische Romancier, hat Javier Marías Anfang der 1990er Jahre mit „Corazón tan blanco“ – „Mein Herz, so weiß“ eine weltweite Erfolgsgeschichte gestartet. 1996 erscheint die deutsche Übersetzung. Es folgen Übersetzungen in 24 weitere Sprachen und mehr literarische Bestseller. Titel, Themen und Motive leiht sich der Autor gern mal von Shakespeare.
Ein Porträt von Sarah V.A. Zimmermann
Das Haupt leicht nach hinten geneigt, weißer Haarkranz, ernster, leicht süffisanter Blick. So guckt ein stattlicher Señor Marías aus Zeitungsporträts heraus. Der Autor gefällt sich im klassischen Dreiviertelportrait, das an Ölgemälde vergangener Epochen erinnert. Alles in schwarz-weiß, versteht sich.
Die bildgewordene Hommage an große literarische Vorväter wie Henry James oder Rudyard Kipling ist unverkennbar. Ein Tiefstapler ist er nicht, dieser Marías. Bescheidenheitsgesten sind nicht sein Ding, Inszenierung natürlicher Bestandteil seines Lebens, seines Denkens.
Wenn Sigrid Löffler seinem 2019 erschienenen Roman Berta Isla attestiert, er bediene sich klassischer Erzählformate, „nur um sie zu sprengen und spielerisch miteinander zu vertauschen“, passt das ins Bild. Ein Eheroman im Gewand des Spionageromans, das sei „Berta Isla“. Marías orchestriert eben gern neu, am liebsten grenzüberschreitend und genreübergreifend.
Vampire, Antihelden und Doppelleben
Als viertes von fünf Kindern wächst Marías (*1951) in Madrid und den USA auf, wo sein Vater, der Philosoph und Franco-Kritiker Juan Marías, an Orten wie Yale und Wesseley unterrichtet.
Schon als Teenager fängt Javier Marías zu schreiben an. Kurzgeschichten zunächst, dann, mit zarten 19 Jahren, seinen Debutroman. Sein erster Schreibjob hat mit Hochkultur allerdings nicht ganz so viel zu tun. Für seinen Onkel, den B-Movie Regisseur Jesús Franco, übersetzt der junge Marías Dracula-Drehbücher aus dem Englischen ins Spanische. Übersetzen liegt ihm.
Er macht damit weiter, studiert Literaturwissenschaft und Philosophie, übersetzt für namhafte Verlage englische und amerikanische Klassiker ins Spanische, darunter Größen wie Conrad, Nabokov und James. Mit Letzteren verbindet ihn das Weltbürgertum. Genau wie seine literarischen Vorbilder bewegt sich der Autor zwischen Europa und der neuen Welt, transatlantisch, kosmopolit.
Marías‘ Romanfiguren sind oft Multitasker, Übersetzer, Ghostwriter, Dolmetscher, ähneln ihm selbst. Mehr Anti- als Superhelden verfangen sie sich in Lügennetzen, führen Doppelleben. Anti-Krimi, Anti-Spionageroman, nur zwei von vielen Einordnungsversuchen. Marías ist dagegen, so scheint‘s.
Vom Dracula zum Duce
„Der spanische Autor, der nicht an die spanische Literatur glaubt“ titelt die New York Times im Juli 2019, kurz nachdem „Berta Isla“ in den USA erscheint. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass der Spanier kleingeistigen Regionalismus und Nationaltümelei rundheraus ablehnt.
„Die Sprache, in der du schreibst ist zweitrangig“, konstatiert er im Interview. Mit solchem Kulturrelativismus macht er sich nicht überall Freunde. Auch in Zona Fantasma, seiner wöchentlich in El País erscheinenden Kolumne, hält er gesellschaftskritisch nicht hinterm Berg. Marías beobachtet – und beurteilt. Literaturbetrieb, Populärpsychologie, Politik, niemand wird geschont, nichts ist zu heilig.
Apropos: Zwar hat sich der Madrilene (noch) nicht heiliggesprochen, dafür aber gekrönt. Immerhin teilt er sich die Herrschaft über ein felsiges Eiland mitten im Pazifik, dem „Königreich Redonda“, mit Schauspielern, Regisseuren, Autoren, darunter Francis Ford Coppola und Umberto Eco. Mit seinen knapp drei Quadratmetern bietet Redonda übrigens wenig Platz für große Männer, ein paar Egos passen aber locker drauf.
Die Autorin:
Als Komparatistin vergleicht Sarah V.A. Zimmermann gern jeden und alles. Dabei geht es ihr nicht ums (Be-)Werten. Sie will das Besondere herausstellen. Ihrer Neugier auf diese große, widersprüchliche Welt geht sie als freie Autorin, Lektorin und Übersetzerin nach. Von Javier Marías haben ihre drei Töchter noch nie gehört.