Benedicta im Blitzgewitter

Die Vita der Spanierin Benedicta Sánchez ist filmreif. Früh verließ sie Galicien und arbeitete als Fotografin in Rio de Janeiro. Nach der Rückkehr schlug sie sich als alleinerziehende Mutter durch. Ihre Tochter ebnete ihr schließlich den Weg zum Star. Jetzt ist sie der Liebling der Filmkritiker und preisgekrönt. Mit Mitte 80. Wir haben sie zum Interview getroffen.

Die Sprachnachricht auf Whatsapp klingt dramatisch: "Ich bin hier mit meiner Mutter vor dem Hotel, der Motor läuft. Wir können noch nicht rein. Jeder will mit meiner Mutter aufs Bild. Tut mir so leid, Tobias, wir kommen so bald wie möglich". Emma, die Tochter des Stars an diesem Tag in der Kleinstadt Lalín, hatte ihren uralten VW-Transporter vor dem Hotel El Palacio zwar parken können. Doch die Show ging weiter. Die Jugendlichen ließen nicht von ihr ab, und Benedicta Sánchez machte mit. Posierte mit ihren Fans vor den Handykameras und hatte sichtlich Spaß.

Seit 10.30 Uhr war Emma mit ihrer 84-jährigen Mutter schon unterwegs, hatte Rockstars und dem Regierungschef die Hand geschüttelt, die Fragen der Journalisten geduldig beantwortet. Benedicta hatte bis jetzt, bis 20 Uhr, ein Kulturevent im Rathaus als Ehrengast begleitet, einen Rundgang durch die Kleinstadt Lalín absolviert, Hände beim Umzug geschüttelt und dann auch noch bei einem Treffen von Promis samt TV-Kameras in einem nahegelegenen Landhaus teilgenommen. Während gleichaltrige Galicier nach dem Essen beim Fest Feira do Cocido längst eine Siesta machten, hatte die Neuentdeckung des spanischen Films noch einen Termin. Mit diesem deutschen Journalisten. Er fand in einem abgeschirmten Raum im Hotel statt, und sollte 1,5 Stunden dauern.

Alle fragen sich, wie eine Frau in diesem Alter den Goya-Filmpreis "Neuentdeckung des Jahres" bekommen konnte. Die eigentliche Frage aber ist: Wie kann eine so alte Frau so stark sein, so ein Durchhaltevermögen haben und dabei noch nach so anstrengenden Stunden so hellwach sein.

Von San Fiz nach Río

Neonlicht, ein einfacher Tisch, darauf ein Tonbandgerät und wir sind gleich beim Du: "Benedicta, willst Du ein Wasser, oder einen Tee?". "Nein, mein Junge, es geht mir gut".

Die Frau, die in Cannes für ihre Rolle im Film O Que Arde geehrt und in Málaga den Goya erhielt, stammt aus San Fiz de Paradela. Einem Kaff nahe der galicischen Stadt Lugo mit einer Kirche und einigen wenigen Höfen. Und warum sie so früh der Enge der 50er Jahre in Nordwestspanien entfliehen wollte, wird gleich zu Beginn des Gesprächs deutlich.

"Ich war fünf Jahre alt damals, ich hatte keine Puppen, ich hab die Kühe gestreichelt, die Esel und die Hasen. Die habe ich so gerne gestreichelt. Dann hat mein vier Jahre älterer Bruder einen Hasen erschlagen und gesagt, ich soll ihn zu meiner Mutter in die Küche bringen. Fürs Mittagessen. Ich bin in den Wald gelaufen, weinend. Wie kann man so etwas tun? Und als ich den armen Hasen nicht essen wollte, hat meine Mutter gesagt: Hab dich nicht so, wenn Du später heiratest, schlachtet dein Mann auch die Tiere.

Fotografin in Brasilien

Mit 17 heiratete Benedicta einen Nachbarsjungen, mit 25 zog sie mit ihm nach Río de Janeiro. "Ich hatte einen Film gesehen, mit Palmen und Strand, ich wollte raus in die Welt". Sie betrieb mit ihrem aufbrausenden Gemahl zunächst eine Bar, trennte sich von ihm und fand neue Jobs und neue Freunde. Sie war damals Ende 20, verdiente ihr eigenes Geld und war wahrscheinlich die emanzipierteste galicische Emigrantin ihrer Zeit: "In ganz Río war ich mit meiner Minolta als Fotografin unterwegs, das war toll. Es gab sonst nur Männer mit der Kamera. Sogar Heilikopter bin ich geflogen." Sie lernte einen zweiten Mann kennen, begeisterte sich für andere Religionen wie den Buddhismus, ging an den Strand, ins Theater und brachte ihre Tochter Emma zur Welt, die heute als Kamerafrau arbeitet.

Benedicta musste als alleinerziehende Mutter mit ihrer Tochter zurück nach Galicien, weil ihre Mutter angeblich sehr krank war. Später zog sie nach Valencia, wo es ihr viel besser gefiel. Doch nach dem Tod der Eltern zog sie zurück nach San Fiz in den Hof ihrer Kindheit. Und dann kam die riesige Überraschung.

Die Rolle ihres Lebens

Benedicta lebte nun ein ruhiges Leben. Zunächst. Ernährte sich vom Gemüse aus dem Garten, sah ihre Enkelkinder aufwachsen. Die zierliche schlanke Frau hatte ihren Frieden gefunden und war nun Bäuerin: "Ich laufe lieber auf Waldwegen als auf Straßen. Was auf Straßen alles passieren kann". Und auch ihre Kameras legte sie beiseite. In einer fand Tochter Emma später noch einen Schwarzweißfilm und entwickelte ihn. Es waren Boote drauf zu sehen. Überhaupt, sie fotografierte in Río gar nicht so gerne Menschen: "Porträts sind am schlimmsten. Immer müssen alle grinsen, auch die Kinder. Ich fotografierte lieber einen Baum. Der hat auch Leben, grinst aber nicht."

Auch die Eltern des Regisseurs vom Film O que Arde, Oliver Laxe, stammen aus der Gegend, in der Benedicta zur Welt kam. Als Emigrantenkind wuchs er in Paris auf. Er absolvierte eine Feuerwehrausbildung für seinen Film mit Namen "Es wird brennen". Benedicta sagt: "Es gibt hier so viele Waldbrände, wegen der Eukalyptusbäume. Früher wurde hier kontrolliert abgebrannt, heute ist vieles außer Kontrolle, weil so oft mutwillig abgefackelt wird, auch für Bauland." 

Emma machte mit der Mutter einen Ausflug und brachte Benedicta mit Oliver Laxe in Kontakt. Was sie nicht wusste: Es war ein Casting. Laxe suchte eine Schauspielerin um die 70, welche die Mutter eines vermeintlichen Feuerlegerns spielen sollte. Von Benedicta war er sofort begeistert. Und bot ihr die Rolle an. Sie sagte zu. Wovor sollte sie denn auch Angst haben? Es sollte die Rolle ihres Lebens werden.

Die ganz große Bühne

"Oliver und sein Team, die haben mich so gut behandelt. Ich war eigentlich viel zu emotional für die Rolle der Mutter im Film. Meinen "Sohn" haben sie auf die Nase gehauen. Das war kein echtes Blut, Tobias, aber es sah furchtbar aus. Ich musste die teilnahmslose Mutter spielen. Das war schwer. Oliver hat mir dann Spielfilme gezeigt von Menschen ohne Emotionen, "León der Profi" und so. Dann ging es ..." 

Als der Film in Cannes 2019 vorgestellt wurde, verließ Benedicta San Fiz schon wieder. Diesmal mit Ziel Frankreich. Als ich sie frage, ob brasilianische Männer besser tanzen und Galicier bessere Modemacher sind, schüttelt sie den Kopf. "Aber Benedicta, Du hast Dich doch für Cannes bei Adolfo Domínguez einkleiden lassen, oder?"

Anwort: "Habe ich das? Die haben mich da hingefahren, ich sollte so Sachen anziehen, hohe Schuhe und so. Das ist gar nicht mein Ding".

Seit sie den Goya bekommen hat, seit sie die Ehrenmedaille von Galicien erhielt, kann sie sich vor Angeboten nicht mehr retten. Sie lässt sich zu Veranstaltungen wie diesmal in Lalín einladen, tritt im Fernsehen auf. So kündigte sie auf Wunsch des Senders im galicischen Fernsehen auch das neue Jahr 2020 an. Lächelnd, und mit viel Charme.

Und sagt mir im Interview trocken: "Weißt Du, Tobias, Weihnachten und Sylvester, das ist doch alles nur Konsum."

Askese und Almodóvar

Benedicta mag keinen Konsum, keinen Glamour. Sie braucht keine Schlachtplatten und keinen Rausch. Und sie hilft gerne. Lalín ist Galiciens Hochburg der Schweinefleischproduktion. Gleichzeitig aber auch eine Stadt im Schatten von Santiago de Compostela. Und so hat sich die überzeugte Vegetarierin eben auch hierhin einladen lassen: "Wenn die Stadt dadurch mehr Aufmerksamkeit bekommt, ist das doch in Ordnung". 

Benedicta hat helle, klare Augen. Und viele, nicht nur in Brasilien, halten sie für eine Deutsche. "Ich war schon mal mit dem Schiff auf dem Rhein, weißt Du. Und ich hab sogar schon hier in Lugo erlebt, dass mir Leute erzählt haben, sie hätten früher in Dortmund und Essen gelebt. Und sich dann mit einem "Auf Wiedersehen" verabschiedet. Sie haben gedacht, sie reden mit einer Alemana."

Angebote für weitere Filmrollen hat sie auch schon, sie kommen aus Madrid. Mancher spekultiert sogar, Benedicta werde eine neue Chica Almodóvar, eine Neuentdeckung des wohl berühmtesten spanischen Regisseurs. Sie sagt dazu: "Vielleicht, inzwischen überrascht mich gar nichts mehr".

Komplimente hat sie auch jetzt in Lalín wieder bekommen, der galicische Regierungschef Feijoo würdigte sie als streitbare Frau für die galicische Sache. Der Bürgermeister von Lalín nannte sie eine wunderbare Frau, die Jugendlichen auf der Straße jubelten ihr zu. Doch das vielleicht größte Kompliment bekam sie einmal von einem Priester, mit dem sie lange sprach: über ihr Interesse an anderen Religionen, ihre Zeit als Fotografin und natürlich auch über ihre Scheidung.

"Weißt Du Tobias, was mir der Priester sagte? Tienes madera de Santa" (Du bist aus dem Holz einer Heiligen). 

 

Recherchenotiz

Das Treffen mit Spaniens neuem Filmstar Benedicta hat Tochter Emma möglich gemacht. Sie hat mir auch die beiden Fotos von ihrer Mutter als Fotografin in Brasilien geschickt. Und Benedicta hat Emma die Trophäe des Filmpreises Goya gewidmet.

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