Reactable: Die Zukunft des Musizierens aus Spanien
Wer an typisch spanische Musikinstrumente denkt, kommt meist auf Flamenco-Gitarren, Kastagnetten und Cajons. Doch das sind lediglich Klischees. Denn seit einigen Jahren sorgt das in Barcelona entwickelte Reactable-Instrument für weltweites Aufsehen. Mit Hilfe von Computern, Kameras und Projektoren bricht das futuristische Instrument nicht nur mit sämtlichen Prinzipien des Musizierens. Gleichzeitig präsentieren die Entwickler ein zukunftsweisendes Konzept, das die grundsätzliche Bedienung von Computern auf ein neues Level hebt.
Von Georg Berger
Die Szenerie mutet an wie in einem Science-Fiction-Film: In einem abgedunkelten Raum sind fremdartige elektronische Klänge hörbar, die sich irgendwo zwischen Musik und Klang-Collage bewegen. Drei Personen stehen darin um einen runden Bistro-Tisch. Die Haupt-Lichtquelle geht von der farbig hinterleuchteten Tischplatte aus. Doch anstelle kühler Getränke finden sich darauf verschieden große Würfel und Tafeln, die von den Personen auf eine eigentümliche Art bewegt werden. Jede Bewegung dieser gläsernen, mit kryptischen Zeichen versehenen Objekte geht dabei mit mehr oder weniger drastischen Änderungen der elektronischen Klänge einher. Wir befinden uns nicht an Bord des Raumschiff Enterprise, sondern im Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe. Dort fand sich 2009 mit dem Reactable ein revolutionäres elektronisches Musikinstrument, dass die Musizier-Praxis seit 2005 auf den Kopf stellt. Das Zauberwort heißt in diesem Zusammenhang "Tangible User Interface", was am treffendsten mit "gegenständliche Benutzerschnittstelle" übersetzt wird.
Bedienung ohne Maus und Tastatur
Kurz gefasst geht es dabei um die Steuerung von Computern mit Hilfe physischer Objekte, abseits von Computer-Maus und -Tastatur. Durch das Bewegen der Objekte erfolgt eine unmittelbare Reaktion des Computers beziehungsweise der darauf laufenden Software.
Seit 2003, also lange bevor iPhone und iPad mit ihren berührungsempfindlichen Displays ihren Siegeszug antraten, forschten die Wissenschaftler Sergi Jordà, Günter Geiger, Martin Kaltenbrunner und Marcos Alonso an der Pompeu Fabra Universität in Barcelona auf diesem Gebiet. 2005 feierte Reactable seine tönende Welt-Premiere auf der International Computer Music Conference in Barcelona.
2009 wagten die Vier den Schritt in die Selbständigkeit. Seitdem schenken sie ihrer Erfindung und seiner Weiterentwicklung die volle Aufmerksamkeit. Was folgte, waren viele Demonstrationen auf Messen und Kongressen.
Demonstrations-Videos auf youtube besitzen millionenfache Klickraten und das Unternehmen ist mit einschlägigen Fachpreisen für sein Instrument ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Ciutat de Barcelona 2007 oder dem Prix ars electronica 2008.
International renommierte Künstler wie die Sängerin Björk oder die Band Coldplay setzen die spanische Erfindung mittlerweile auch auf ihren Live-Konzerten ein.
Mit Glas-Bauklötzen Klänge erzeugen
Die Technik dahinter erscheint auf den ersten Blick banal. Ein Film-Projektor und eine Kamera zeigen von unten auf die kreisrunde Glasfläche des Tisches. Die auf der Fläche positionierten Objekte besitzen individuelle Passmarken, die von der Kamera erfasst werden. Jede Passmarke steht für eine bestimmte Komponente der elektronischen Klangerzeugung, etwa einen Oszillator oder einen Filter. Bewegungen dieser Objekte werden von der Kamera erfasst und an eine eigens programmierte Software als Steuerbefehle weitergeleitet. Diese setzt die Steuerbefehle am Ende in Klang um. Der Projektor wirft die daraus resultierenden Ergebnisse auf die Glasplatte, so daß der Nutzer eine visuelle Rückmeldung erhält. Der Clou an diesem Konzept ist, wie die einzelnen Objekte miteinander agieren. Ein Beispiel: Wird ein Oszillator, der einen scharfen Ton ausgibt in die Nähe eines ganz langsam schwingenden Niederfrequenz-Oszillators geschoben, führt dies dazu, daß die Tonhöhe des ersten Oszillators periodisch in der Tonhöhe geändert wird. Durch Drehen der Glas-Objekte wird der Effekt wahlweise intensiviert oder abgeschwächt. Das Bild auf der Glasfläche quittiert dies mit einer animierten Linie zwischen den beiden Komponenten. Mit Hilfe zusätzlicher Glas-Objekte lassen sich schließlich hochkomplexe Signal-Konstruktionen realisieren, wobei jede Komponente stets manipulierbar bleibt.
Wer jetzt denkt, dass solch eine Maschinerie nur von Experten bedienbar ist, irrt ganz gewaltig. Reactable soll nach der Vorstellung seiner Schöpfer für jedermann leicht bedienbar sein. Außer einer mobilen Version für Live-Einsätze offeriert das Unternehmen unter dem Schlagwort „Experience“ auch eine Variante für den stationären Einsatz. Anstelle eines lichtundurchlässigen Tuchs, das am Rand der Glasplatte angebracht ist und das Innenleben abdeckt, bestehen die Seitenwände der letztgenannten Variante aus festem Material. Dass diese Vision durchaus real ist, davon zeugen zahlreiche Einsätze in Museen und auf Ausstellungen, in der nicht nur Kinder auf spielerische Weise in die Geheimnisse der elektronischen Klangerzeugung eintauchen. Außer im eingangs erwähnten ZKM sind Exemplare unter anderen auch im Universeum in Göteborg oder im Museum of Science and Industry in Chicago installiert, wo sie sich hoher Beliebtheit bei den Besuchern erfreuen.
ROTOR: Der jüngste Streich in Sachen Audio-Know-how
Wem das zu weit ist, kann für rund 6.000 Euro auch ein Reactable Live direkt beim Hersteller ordern. Dafür ist aber noch ein nicht im Lieferumfang enthaltener Apple-Computer sowie eine Soundkarte erforderlich.
Ungleich günstiger geht’s aber mit der gleichnamigen App für iPhone und Android-Handys, die für rund zehn Euro seit 2010 erhältlich ist. Allerdings fehlt dabei das haptische Erlebnis mit den physischen Objekten.
Abhilfe naht mit der jüngsten Entwicklung, die auf Reactable basiert und diese Lücke ein wenig schließt. Sie heißt ROTOR, besteht aus einer App für Apples iPad und zwei zylindrischen Knöpfen, die als Bedienhilfen auf der Oberfläche des iPad-Displays einsetzbar sind. Kostenpunkt: rund 50 Euro.
Das Know-how für solch eine Innovation kommt nicht aus heiterem Himmel. Reactable ist aus der Music Technology Group hervorgegangen, die Teil des Instituts für Informations- und Kommunikations-Technologie an der Universität Barcelona ist.
Vergleichbar mit dem renommierten IRCAM in Paris, das Forschungs- und Wirkungsstätte für so ziemlich jeden namhaften Komponisten Neuer Musik ist, forschen die Wissenschaftler in Barcelona eher im stillen Kämmerlein.
Das Institut kann dabei auf zahlreiche innovative Projekte rund um die Weiterentwicklung von Musik-Technologie und digitaler Audio-Signalverarbeitung zurückblicken. Viele Musikinstrumenten-Firmen von Weltrang wie etwa Native Instruments, Korg oder Yamaha setzen Entwicklungen der Music Technology Group in ihren Produkten ein. Das Reactable-Instrument steht da nur für eine von vielen Innovationen, aber für die mit Abstand spektakulärste Entwicklung mit der weltweit größten Reichweite.
Zum Autor
Georg Berger ist Musiker und Komponist und hat sein Handwerkszeug als Profi-Redakteur bei einem Fachmagazin für Tontechnik gelernt. Zu seiner Webseite