Tío Grillo oder das Märchen vom Wahrsager
In Spanien zirpt es aus allen Ecken und Hecken: Die Grille hält ihr Frühjahrskonzert. Volkstümlich steht das singende Insekt für einen nutzlosen Musiker. Spanier und Latinos hingegen kennen die Grille vor allem aus einem berühmten Märchen von Aurelio M. Espinosa. Dort ist sie Namensgeber für einen alten Mann. Und wird zum Retter in der Not …
Text und Illustration: Julia Schulz
Die Einheimischen erzählten Vater und Sohn Espinosa auf ihrer Reise, es habe vor langer Zeit einen alten Mann gegeben in Matilla de los Caños. Er betrieb die Post des nordkastilischen Ortes und alle nannten ihn Onkel Grillo. Warum, das wusste keiner so genau. Vielleicht, weil er nach dem dritten Glas Vino unaufhörlich sang. Onkel Grillo war ein freundlicher Mann und er lebte ein einfaches aber friedliches Leben.
Eines Tages kam der Dorfschuster in die Post und fragte den Alten: „Tío Grillo, Onkel Grillo, wollen wir uns etwas für den Heiligen Abend verdienen?“.Onkel Grillo stellte sich sogleich eine gute Flasche Wein vor und antwortete daher: Bueno, bueno.
Die Idee des Schusters
Der Schuster war ein Schlitzohr. Er wusste, dass gerade ein Händler im Ort Olivenöl verkaufte. Und er schlug diesen gemeinen Plan vor: Er selbst verwickelt den Ölhändler in ein Verkaufsgespräch, während Onkel Grillo das Maultier des Händlers versteckt.
Wenn der dann sein Tier sucht, gibt sich Onkel Grillo als Wahrsager aus und bekommt einen ansehnlichen Preis für die Vision vom Verbleib des Tieres.
Tatsächlich lief alles nach Plan: Nach dem Auffinden des Maultiers durch die Vision von Grillo in einem nahen Keller bezahlte der Händler den genannten Preis und war sehr dankbar.
Glücklich ging der Ölhändler mit dem Tier seines Weges. Der Schuster wandte sich an Onkel Grillo: Nun wisst Ihr, was wir für den Heiligen Abend verdient haben!
Und der Onkel dachte an den leckeren Rioja, nach dessen Genuss er besonders gerne von der Liebe sang.
Die Juwelen der Königin
Wie das Schicksal es will, wurde das Öl des Händlers zu einem echten Verkaufsschlager und bald belieferte der Mann auch den Königspalast damit. Eines Tages wurde er bei der Anlieferung von Schreien ihrer Majestät aufgeschreckt.¡Me han robado el aderezo! rief sie. Man hat mir den Schmuck geklaut!
Den Ölhändler erinnerte sich an Grillo, den Wahrsager, und erzählte der Königin von ihm. Prompt befahl ihre Majestät den Soldaten, Onkel Grillo aus Matilla de los Caños herzuholen.
Dort wurde er der Königin angekündigt mit: Ahí está el adivino. Der Wahrsager ist hier. Sofort versuchte Onkel Grillo, dem zu widersprechen. Doch die Königin ließ den Ölhändler holen. Und vor dem konnte er den Betrug schlecht zugeben.
Dummerweise erriet er den Aufenthaltsort des Schmucks nicht und landete im Kerker.Dort guckte er durch die Gitterstäbe und überlegte, wie er sich aus dieser Lage bloß retten konnte.
Fundort Pfauenbauch
Nach vielen Stunden war ihm noch immer keine Lösung eingefallen und die Straße vor dem Fenster war wie ausgestorben. Doch plötzlich kam ein Mann des Weges und grüßte ihn. Onkel Grillo rief erleichtert: ¡Gracias a Dios , Gottseidank, da kommt einer!.
Was Onkel Grillo nicht wissen konnte: Der Mann auf der Straße war einer der Räuber. Der fühlte sich ertappt und lief zu seinen Kumpanen: Wir sind verloren! Onkel Grillo hat mich erkannt!Der zweite wollte das nicht glauben und ging daher auch zu dem Fenster.Wieder rief Grillo glücklich: ¡Gracias a Dios! jetzt habe ich den zweiten gesehen!
Und auch der er fühlte sich von dem Alten erkannt. Der Dritte machte sich daraufhin auch auf den Weg und als Onkel Grillo rief: ¡Gracias a Dios! Das ist jetzt der dritte!
Die Räuber fühlten sich entlarvt und verrieten Grillo: Der Schmuck befindet sich im Bauch des Pfaus. Onkel Grillo tat so, als habe er das längst gewusst. Und ließ die Wachen wissen, er habe eine Vision vom verlorenen Schmuck der Königin gehabt.
Prompt wurden die Juwelen aus dem Bauch ihres geliebten Pfaus geborgen.
Grille rettet Grillo
Onkel Grillo wurde sein Wunsch erfüllt: Er leitete fortan die Poststation von Matilla de los Caños. Der Leutnant sollte den alten Mann nun nach Hause begleiten, doch der glaubte nicht an die Wahrsagerei und hielt den Onkel für einen Betrüger.
Auf halber Strecke bückte er sich unbemerkt nach einer Grille, die am Wegesrand saß.¡Alto! Halt! rief er dann. Wenn Ihr mir nicht wahrsagen könnt, was ich in der Hand habe, bekomme ich das ganze Geld und es ist aus mit Dir!
Onkel Grillo war sich sicher, dass er nun als Betrüger entlarvt war und er rief:¡Grillo, Grillo! O Grille, in was für eine Lage hat man dich gebracht!Da warf der Leutnant die Grille fort und rief: ¡Ahora sí te lo creo, jetzt glaube ich wirklich, dass Du ein Wahrsager bist!»Und so endet die beliebte Geschichte aus Spanien.
Zum Hintergrund des Märchens
Matilla de los Caños ist ein nahezu ausgestorbenes Kaff nahe Valladolid mit kaum 100 Einwohnern. Und leicht verwechselbar mit Matilla de los Caños del Río nahe Salamanca, wo immerhin viermal so viele Menschen leben. Aus dieser Gegend stammen viele Märchen Spaniens.
Je nach Ort erzählt man die Grillo-Geschichte etwas anders. So auch im Kindergarten Tío Grillo. Und der liegt nicht in der Meseta, sondern in der kolumbianischen Hafenstadt Barranquillo. Eine Flugstunde nordöstlich des so schönen Landes Panama. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die Grille steht volkstümlich für einen Musiker, der sonst keinen Nutzen bringt. Zurück geht dies vermutlich auf eine Geschichte Platons, in der die Grillen einst menschliche Wesen waren, die ausschließlich sangen. Sie verhungerten deshalb und wurden als Grillen wiedergeboren.
Für das charakteristische Geräusch reibt die Grille mit der Zahnleiste, die sich an der Unterseite des Flügels befindet, über die Kante ihres linken Vorderflügels und erzeugt so ihre Melodie.
Während die weibliche Grille bloß der stumme Adressat ist, beherrscht das Grillenmännchen drei Lieder: Melodie als Lockgesang, das Paarungslied und den Sound zur Verteidigung.
Übrigens sind alle Grillen “Rechtsgeiger”.In der Mythologie steht der Pfau für Macht und Schönheit. Wem dieses imposante Tier im Traum begegnet, der soll vor Geldgier und Eitelkeit gewarnt sein.
Doch wie so oft im Märchen siegt in dieser Geschichte wieder einmal Klein gegen Groß. Was nutzt schon Macht und Reichtum? Das Glück des Zufalls ist auf der Seite der einfachen Menschen. Wie schön!