Warum ist der Jakobsweg so beliebt?

Wegen der Idee eines einzigen Mannes gibt es den Kult um den Jakobsweg. Er entwickelte sie in einer Kneipe in Santiago namens Schwarze Katze, indem er Begriffe auf eine Papierserviette schrieb. Mit Folgen, über die er sich selber wundert. Millionen haben sich seither auf den Weg gemacht. Doch kaum einer kennt ihn. Wir haben den heute 80jährigen in Galicien getroffen, kurz bevor die Pandemie kam und der Camino durch Corona erst einmal leerer wurde.

Von Tobias Büscher

Der Camino ist jenseits der Pandemie zumindest so beliebt wie nie zuvor. In Santiago ist das Haupttor der Kathedrale wegen der Pilgermassen geschlossen. Auf dem Camino kommt es im Sommer normalerweise zu Schlangen vor den Herbergen.

Selbst die Nebenwege nach Santiago wie der Portugiesische Weg sind schon sehr gut besucht. Wie konnte es zu diesem Boom kommen? Wegen Victor. Auch wenn den Mann kaum einer außerhalb Galiciens kennt.

Doch zunächst zu den Zahlen. Die sprechen Bände: In den 1970ern registrierte das Pilgerbüro in Santiago de Compostela kaum drei Dutzend Pilger.

Vornehmlich aus Spanien selbst. 2021 wurden 350.000 Pilger erwartet, andere Touristen noch gar nicht mitgerechnet. Ohne die Pandemie wäre es auch so gekommen und wird voraussichtlich auch später wieder so sein.

Das ist für die Granit-Altstadt von Santiago de Compostela eine nie dagewesene Herausforderung. Galicische Journalisten bringen inzwischen Reportagen über Wanderer nach Santiago, für die es nicht genügend Klos am Wegrand gibt.

Die Bischöfe sprechen von einem Flair wie in einem Disney-Streifen. Und die Verkäufer von Jakobsmuscheln, Apostel-Aschenbechern und Wanderstäben können sich kaum retten vor Einnahmen.

Warum all das? Sind wir plötzlich alle religiös geworden? Kaum: Europaweit leeren sich die Klöster. In Spanien sind sie teils ausgestorben oder die Mönche in biblischem Alter.

Auch in Deutschland gibt es nur noch rund 18.000 Ordensleute, so viele wie Bad Schwartau Einwohner hat.

Liegt es also an den Büchern von Hape Kerkeling, Cees Nooteboom und Shirley Mc-Laine? Nein, auch das nicht im Kern.

Denn die entstanden erst nach 1993. Und das ist das Schaltjahr. Damals begann der Kult. Und der Grund ist ziemlich irre:

Jakobskult beginnt mit Kneipenbesuch

Es ist Sommer 2019, als ich Victor das erste Mal treffe. Mit meiner Familie bin ich kurz in Santiago gewesen. So viele Deutsche haben wir bei unserem Aufenthalt in Galicien sonst nirgends gesehen. Die einen haben Rucksäcke und Wanderschuhe, die anderen sind gerade per Bus für ein paar Stunden hier angereist. Kurzbesuch während der Kreuzfahrttour.

Wir sind dann einfach zurück ins Kernland der Region in Nordwestspanien, weitab vom Jakobsweg. Wo wir den Bürgermeister kennen.

Und der wiederum hat uns Victor vorgestellt (siehe Foto oben). Den Mann, wegen dem sich schon Millionen Pilger auf den Weg gemacht haben. Wegen dem es Bestseller gibt. Und dramatische Spielfilme über den Jakobsweg.

Der Mann ist heute knapp 80 Jahre alt. Sein voller Name: Víctor Vázquez Portomeñe. Beruf: Politiker der konservativen Volkspartei PP. Er hat die Marke Xacobeo erfunden, den Kult um das Heilige Jahr, den Hipe um den Camino. Ohne ihn hätte Hape Kerkeling das Buch Ich bin dann mal weg wohl nie geschrieben. 

Um das zu verstehen, muss man Galicien verstehen, die Region, deren Hauptstadt Santiago ist. Und die im Schatten der großen Ereignisse endlich ins Rampenlicht wollte.

Schaltjahr 1992: Santiago kontert

Víctor Vázquez Portomeñe war 1990 ein Mann im besten Alter. Er arbeitete für den galicischen Regierungschef Manuel Fraga, einst Minister unter Franco.

Und er musste mit ansehen, wie alle über Barcelonas anstehende Olympiade sprachen (1992), über Madrid  als Kulturhauptstadt (1992) und über Sevilla (500 Jahre Kolumbus).

Alle kamen sie im Vorfeld nach Spanien, Reporter, Reisende, das Geld floss in Strömen. Nur Galicien, da im äußersten Nordwesten des Landes, guckte in die Röhre.

Und was machte Victor? Er ging in Santiago in die Altstadtkneipe Gato Negro, trank zwei Bier und schrieb folgende Worte auf eine Serviette: Xacobeo, Jakobsweg, Apostel, Pilger, 1993.

Dann sprach er bei seinem Chef Manuel Fraga vor und erklärte: Guck mal, wenn jetzt alle auf Spanien wild sind: Von Barcelona und Madrid haben die Journalisten irgendwann genug. Sie sind aber da.

Also bieten wir ihnen ein frisches Thema: Apostel Jakob, das Heilige Jahr und Ablass von allen Sünden. 
Fraga hat dem Vernehmen nach wohlwollend an die Decke geguckt.

Doch Victor bekam Geld für die Kampagne. Viel Geld. Er flog nach Miami, nach Tokio, nach Berlin. 

Victor erzählte allen Journalisten vom Xacobeo. Eine süße kleine Plüschfigur hatte er schon dabei. Xacobeo ist das Jakobsjahr.

Das Jahr an dem der 25. Juli auf einen Sonntag fällt. Als Aposteltag. Das war am 25. Juli 1993 der Fall.  Kaum einen außer dem Papst würde das heute interessieren. Aber PR versetzt eben Berge.

Galicische Ehrenmedaille

Die Journalisten bekamen allen erdenklichen Komfort damals, sie durften den Dekan interviewen zum Thema Sündenablass, Chefkochs besuchen und gesponserte Mietwagen fahren. Ihre Veröffentlichungen setzten einen Boom in Gang. Bis heute. Die Politiker in Santiago geben mehr Geld für die PR zum Xacobeo 2021 aus als für Kindergärten. Journalisten werden wieder nach Santiago geflogen und erzählen nun schon zum xten Mal über den Jakobsweg. Das Thema hat sich zwar allmählich versendet. Doch die Leute kommen in Scharen.

Ein einziges Mal stand Víctor im Rampenlicht. Als ihm sein Chef die galicische Ehrenmedaille verlieh. Dann wurde es wieder still um ihn.

Fazit: Der Jakobskult ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie ein einziger Mensch ein Massenphänomen in Gang tritt, den aber fast niemand kennt.
Übrigens: Gesprochen habe ich Victor bei einem Open-Air-Gelage im tiefsten Innern Galiciens nahe der Kleinstadt Lalín. Es gab Seekrake, Churrasco und guten Rotwein. Und sonst keinen einzigen Deutschen. Denn vor allem die Pilger aus Deutschland kommen kaum hier vorbei. Dazu müssten sie einen Umweg nach Santiago kennen. Den sogenannten Jakobsweg Camino del Invierno, der Winterweg.

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