Lavapiés - im Kiez von Madrid

Lavapiés hat Flair. Tobias Büscher, Madrid-Buchautor, über ein kurioses Künstler-Viertel der Hauptstadt Madrid und seine abwechslungsreiche Geschichte. Die 40 000 Bewohner sind ein Mix aus altgewordenen Spaniern, jungen Studenten und Künstlern, Schwarzafrikanern und chinesischen Händlern. Den besten Ruf hat dieses Madrider Stadtviertel nicht, langweilig ist es aber trotz fehlender sogenannter Sehenswürdigkeiten auch nicht.

Steil abwärts, uneben, kurvig, fast fließend schlängeln sich die Straßen von der Plaza Antón Martín und der Calle de Magdalena hinunter ins Herz der Unterstadt: zur frisch restaurierten Plaza de Lavapiés.

Das Viertel ist alt geworden, und die Stadtchronisten Madrids loben Lavapiés nach wie vor in den höch­sten Tönen.

Hier gebe es noch das echte alte Madrid in seiner reinsten Form, mit dem authentischen Ma­drider Slang, mit den traditionellsten Gebräuchen, unberührt vom Touris­mus und der kapitalistischen Mo­derne.

Wie ein Dorf in der Metropole

In Lavapiés, lange ein sozialer Brennpunkt, war noch vor wenigen Jahren jeder zweite Laden in chinesischer Hand: Plastikramsch. Der Verkehr wiederum nervte in den engen Gassen, doch damit ist nun Schluss. Eisenboller hindern am Parken, Verbotsschilder den Transport von Waren.

Das Vier­tel ist wieder attraktiv, und auch die Mieten verhältnismäßig niedrig. Kein Wunder, dass viele hier wohnen, die anderswo kaum unterkämen:

Studenten ebenso wie senegalesische Flüchtlinge, die hier teils zwar illegal wohnen, von den "Ureinwohnern" des Viertels jedoch mehr gemocht werden als die eher unzugänglichen Marokkaner und Asiaten.

Multikulturelle Szene im Zentrum

Eingegrenzt zwischen Calle de Atocha im Norden, Ronda de Valen­cia und Ronda de Atocha im Süden und dem Rastro hinter der Calle de Embajadores im Westen lag hier einst das Judenviertel Madrids vor der Stadtmauer.

Möglicherweise stammt der Name des Viertels vom Getto: Aba-puest ist die hebräische Bezeichnung für „Ort der Juden“.

Später nannte man das Viertel Avapiés, nach dem noch heute ein lebendiger Nachtschup­pen in der Calle Lavapiés heißt. Auch viele Bewohner, die schon immer hier leben, reden noch von Avapiés. Wo das „L“ herkommt, weiß eigentlich keiner so genau. 

Keine Synagoge, aber eine jüdische Vergangenheit

Eins sei gleich vorweggenommen: Lavapiés ist beileibe kein Madrider Marais (Paris), Überreste des jüdi­schen Gettos sucht man vergeb­lich.

Die alte Synagoge wurde im Mittelalter abgerissen und an diesel­be Stelle eine christliche Kirche ge­setzt. 1492 vertrieb das Katholische Königspaar alle Juden des Landes.

Die „Straße der Synagoge“ tauften die Stadthalter in „Straße des Glau­bens“ (Calle de la Fe) um, die heute eine der typischen Gassen von La­vapiés ist.

Für ihre Ansiedlung hatten die Juden einen hohen Tribut zahlen müssen. Als man sie brutal vertrieb, flohen die meisten nach Nord­afrika. Andere konvertierten, sahen sich aber ständig der Gefahr der lnquisi­tion ausgesetzt.

Lavapiés: Milieu pur

Lavapiés erzeugt tagsüber ein Konzert der Geräusche. Iraner und Marokkaner handeln in der Calle del Amparo sprachgewandt mit Klunkern und Kettchen, die sie sonntags auf dem nahen Rastro ver­scher­beln.

Ein Frisör lässt im stau­bigen Hinterzimmer die Schere klappern, wäh­rend der Kunde auf einem vierbeinigen, wackeligen Holzstuhl sitzt. Zwischen den Blu­mentöpfen an den schmie­deisernen Balkonen schauen Frauen hervor, die sich von Haus zu Haus über die Lotterie, Ehekrach und Kochrezep­te austauschen. 

Wo sich die Bewohner noch kennen

Zum Einkauf geht man in Küchenschürze und Lockenwicklern, schließlich sind die Läden, Tavernen und Sträßchen eine Fortsetzung des eigenen billigen, aber kleinen Le­bens­raums. In Lavapiés kennt man sich noch, grüßt sich oder hasst sich wie in jeder echten Nachbarschaft.

Das enge Zusammenleben existiert, seitdem vor Jahrhunderten die Straßenna­men erfunden wurden. Die Gassen sind nicht nach heroischen Persön­lichkeiten oder abstrakten Begriffen benannt, sondern sie spiegeln Er­eignisse und Anekdoten der Bewohner wider.

Um die Plaza de Lavapiés liegen urwüchsige, teilweise steil nach Süden abfallende Gassen wie die Schwertstraße ­(Calle Espa­da), die Straße Ave María, Straße der drei Fische (Calle Tres Peces), Ulmenstraße (Calle del Olmo), Früh­lingsstraße (Calle de Primavera) oder Rosenstraße (Calle de la Rosa). 

Gruselig: die Straße des Kopfs  

Die Geschichten sind seit jeher überliefert. So soll in der Straße des Kopfes (Calle de la Cabeza) ein rei­cher Pfarrer gelebt haben. Sein Un­termieter war blass vor Neid und raubte ihn eines Tages aus, wobei er dem Pfarrer im Eifer des Gefechts den Kopf abhackte. Der Mörder floh nach Portugal, doch zog es ihn nach Jahren an den Ort der Tat zurück.

Er lebte gut in Lavapiés und wurde nicht überführt, bis er eines Tages auf dem Rastro einen Lammkopf kaufte, den er daheim verzehren wollte. Auf dem Rückweg hinterließ der frisch ge­schlachtete Kopf eine Blutspur, die einen Nachbarn aufmerksam mach­te.

Nach dem Inhalt seines Beutels gefragt, öffnete der Mörder den Ver­schluss und fand den abgehackten, bleichen Kopf des Pfarrers vor. Von Panik geschüttelt stellte er sich der Polizei, gestand die Tat und wurde ge­hängt. Als man den Beutel später untersuchte, fand man nichts ande­res als, na klar: den Lammkopf.

Seitdem nannte man die Straße nach dem Kopf des Pfarrers.Sicher ist an der Geschichte nur, dass Felipe III. an den Dachsims des Hauses zu Ehren des Pfarrers einen gemeißelten Kopf anbringen ließ.

Den Nachbarn war nicht wohl bei diesem makabren Denkmal, und so wurde der Steinschädel wieder ab­genommen. 

Trickreich gegen die Stadtverwaltung

Zur selben Zeit, im Madrid des 16. Jahrhunderts, hat man in Lavapiés und an anderen Stellen der Stadt schnell und fast improvisiert gebaut (mehr zu Spaniens Geschichte).

Ein paar Zahlen: 1562 gab es 2500 Häuser in der Stadt. 7000 waren es nach 35 Jahren, als der Königshof Ma­drid zur Hauptstadt gemacht hat­te. Aus dieser Zeit stammt ein architektonischer Trick der Bewohner. Die vielen Beamten des Hofes muss­ten untergebracht werden, und so kam es zu einer der kuriosesten königlichen Anordnung in der Geschichte der spanischen Baukunst.

Die Beamten sollten in allen Häusern einziehen können, die mehr als ein Stockwerk mit Wohnraum besaßen. Daher baute man zur Straße hin einstöckige Häuser, um wenig Platz vorzugaukeln.

Nach hinten wurden sie aufgestockt. Man nannte die Bauten „Häuser der Hinterhältigkeit“ (casas de malicia). Kamen die könig­lichen Inspektoren, setzte das Früh­warnsystem ein. Die hinteren Wohnräume wurden schnell in völlig unbewohnbare Rumpel­kammern umfunktioniert. Oder man brachte in aller Eile Stroh und ein paar Schweine in die Gemächer, in einem Stall wollten die Beamten doch wohl nicht wohnen. 

Corralas wie in Andalusien

Als Resultat des ungeheuren Bevölkerungswachstums entstanden in der Unterstadt, in den so genannten bar­rios bajos, auch die Corralas. Sie sind den sevillanischen Innenhöfen nachempfunden. Kleine Wohnungen von rund 20 Quadratmetern verbin­den Ausgänge und Korridore.

Noch heute gibt es einige versteckte, zugige und schlecht geheizte Corralas in der Unterstadt, die notdürftig mit Dachziegeln und Holzbalken verarbeitet sind.

Wo sie einzustürzen drohten oder Francos Bauspekulanten zuschlugen, hat man sie durch quadratische, langweilige Billigbau­ten ersetzt. In den alten Corralas leben die ärmsten Fami­lien.

Andere, wie die Corrala zwischen den Straßen Sombrete und Tribulete, sind dagegen renoviert worden und bieten den Bewohnern etwas mehr Komfort. Der Innenhof dieser Corrala ist heute im Sommer Szenarium für Theateraufführungen (Zarzuelas und Comedias) Auch das hat in La­vapiés Tradition.

Wenn in einem der Innenhöfe der Corralas Theater gespielt wurde, dann schlugen sich die Zuschauer vor Lachen auf die Schenkel, aßen, tranken, rülpsten und fluchten, tanzten und flirteten wie auf einem Jahrmarkt.

Das Theater des 18. Jahrhunderts spiegelte das Publikum so sehr wie­der, dass man Bühne und Zuschauerraum verwechseln konnte. Das galt besonders für die Sainete, Vor- und Nachspiel eines grö­ßeren Stückes. 

Theaterbühne: die Sainete

Die Sainete hat das Volksleben nachempfunden und bereichert. Der Vater dieser Gattung war Ramón de la Cruz (1731–1794), der den Zu­schauern und Bewohnern der Unterstadt einen Spiegel vorhielt, man­che Wortschöpfung schuf und ihnen auch ihren Namen gab: Manolos.

Manuel oder Manolo hatten die konvertierten Juden ihre Erstgebo­renen genannt. Mit ihnen vermischten sich Immigranten aus den Re­gionen Andalu­sien, Extremadura und Murcia zu einer ganz spezifi­schen Volkstype, dreist, lebendig, frech und witzig, genau wie sie Ra­món de la Cruz beschrieb.

Die Manolos handelten sich den Ruf „Andalusier von Madrid“ ein, die sich niemals und niemandem unterwar­fen. So ein Manolo musste es mit je­dem aufnehmen können.

Besonders mit den Rivalen aus der Oberstadt, den rauen, schmuddeligen und stolzen chisperos aus den Grobschmieden in Malasaña und Barquil­lo (heute nördlich der Gran Vía). 

Manolos, Majas, ein cleverer Menschenschlag

Die Manolos gaben sich vorneh­mer, kleideten sich modisch und putzten sich zu den Stadtfesten her­aus, in denen sie gemeinsam mit den chisperos die schönste maja des Festes kürten oder in Rangeleien gerieten. „Barrio Bajo“, die Unterstadt, konn­te und kann man geografisch und sozial interpretieren.

Die Manolos waren mindestens genauso arm wie die Schmiede. Und sie gaben sich fromm, zündeten neben Heiligenbil­dern Ölkerzen an, verspotteten aber insgeheim den Pfarrer, dem bei ih­rem Lebenswandel angst und ban­ge werden musste. In Literatur und Malerei sind sie verewigt.

Gleichzei­tig lebten sie in den Chulos des 19. Jhs fort, einem neuen Volkstyp, deren große Vertreter wie der Bandit Luis Candelas von der Li­teratur der Romantik zu Helden stili­siert wurden.

Der Räuber Candelas

Candelas lebte im Kiez von Lavapiés als Anführer mehrerer Räuberbanden, versteckte sich in den en­gen Winkeln der Corralas und wurde von Nachbarn in den Kellern der Ta­vernen vor der Polizei versteckt.

Aber der Held von Sagen und Le­genden fiel den Gesetzeshütern auf der Flucht nach England doch noch in die Hände.

Die Gunst des Volkes und ein Gnadengesuch an die Königin nützten dem Banditen nichts. 1837 ließ man ihn hinrichten.

Die meisten Chulos träumten von der Stierkampfkarriere, sprachen ihre eigene, derbe Sprache und sa­hen sich als die Essenz des Volks­tums. „Aristokratie des Volkes“ hat sie der Literat Sainz de Robles tref­fend bezeichnet und als solche ver­stehen sie sich wohl noch heute. 

Alte Traditionen, aber wo sind die geblieben?

Aber wo sind sie hin, die Chulos, die typischen, echten Madrider? „Da drau­ßen“, antwortet Angela aus einer Konditorei.

Umringt von Likören, Krokant, Erd­beer- und Kiwiplätzchen plaudert sie über die echten Alten, die inzwi­schen eher zurückgezogen in ihren Häusern wohnen.

Sie bedauert, dass die Ausländer, Studenten und die ewigen Bewohner so unbeteiligt ne­beneinanderher leben. Und auch die vielen Plastik-Ramschläden chinesischer Pächter findet sie gruselig.

Mietpreise wie vor Jahrzehnten

Die Mieten sind manchmal kaum teurer als die Stromrechnung. Nach einem alten Mietgesetz aus den 1960er-Jahren (renta antigua), das bei neuen Mietverträgen längst nicht mehr gilt, kann der Vertrag von einem Familienangehörigen auf den näch­s­ten vererbt werden.

Daher zahlen manche Anwohner heute noch Preise aus dem 19. Jahrhundert. Aber irgendwann wer­den die Räume so baufällig, dass sie nicht mehr bewohnbar sind. Auch die Straßenreinigung funktioniert nicht so wie in anderen, rei­cheren Vierteln.

Keine Konkurrenz für Huertas

Etwas weniger zentral als Huertas oder Malasaña ist Lavapiés nie ein typischer Ort fürs Nachtleben ge­wesen. Auf den ersten Blick wird der Fremde vielleicht eher enttäuscht über die vergleichsweise ruhigen Straßen sein.

Das Publikum vom Nachmittag sieht man auch nachts noch. Nachbarn treffen sich zu einem Klön. Vor allem in der Straße Argumosa trifft sich ein alternatives Publikum auf den Terrassen und in den kleinen Bars. Hier reihen sich die Knei­pen nicht dicht aneinander, sondern liegen vereinzelt und haben eine eigene Aura, die nur wenige Nachtschwärmer erfassen.

Flamencohöhle Candela

Dazu gehört auch das „Candela“ in der Calle del Olmo, Ecke Calle del Olivar. Größen des Flamenco wie Niño de ­Cadiz waren oft Gäste. Doch während der Raum mit Salsa und Qualm ge­schwängert ist, treffen sich im Keller die Eingeweihten und Flamencolieb­haber, um hinter verschlossener Tür zu feiern.

Wenn man Glück hat, packt aber auch oben plötzlich je­mand die Gitarre aus, und es setzen spontan Klang, Gesang und das rhyth­mische Klappern ein.

Ana Belén, die einstige Diva aus Lavapiés

Der Reiz von Lavapiés bei Nacht liegt vielleicht gerade darin, dass hier nicht Horden von Nachtschwärmern von einer Bar zur x-beliebigen näch­s­ten stolpern.

Die Leute aus Lavapiés sind noch unter sich. Und sie sind stolz auf sich. Ein Sprichwort aus dem ­Viertel: „Eine schöne Frau zählt für drei, falls sie in Lavapiés geboren sei“. „Eine Übertreibung?!“ protestiert der Kell­ner einer Stehkneipe in der Calle de Valencia. „Dann denk doch nur mal an Ana Belén! Oder an meine Freundin!“

Seine Freundin kennen wir nicht. Ana Belén ist allerdings tatsächlich für die Spanier zu einem Frauenideal avanciert.

Mit 14 stand sie schon auf der Bühne, sang Pro­testsongs gegen Franco, heute singt sie mal leidenschaftlich mal kitschig und manchmal gemeinsam mit ih­rem Mann Victor Manuel, ebenfalls berühmter Sänger in Spa­nien.

Ana Belén ist in der Bundesrepublik völlig unbekannt. Hier ist die attraktive Frau ein Star der Musikszene wie Joaquín Sabina und wird es immer bleiben. Und geboren ist sie – na klar: in Lavapiés.

Info:

Spanisches Fremdenverkehrsamt, Kurfürstendamm 180,10707 Berlin, Tel. 030/882 65 43

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