Pulpo: ein intelligentes Tier in Gefahr
Sie kann Fußballergebnisse vorhersagen, ist ein Klassiker der spanischen Küche und auch in Filmen ein Hit. Und dennoch ist die Krake in Gefahr. Warum Spaniens Pulpo uns mehr angeht, als wir denken.
von Alina Brammer
Noch bevor der Sommer beginnt, brodelt es an Spaniens Küsten. In Castellón werden die Kupferkessel poliert und Pulpo-Rezepte verfeinert. In Galicien herrscht jedoch ungewohnte Ruhe, denn die Fischer bleiben an Land.
Die Krake – auch Pulpo genannt – ist Spaniens kulinarischer Liebling mit acht Armen und steht 2025 im Zentrum von gleich mehreren Ereignissen. Sie zeigen, wie widersprüchlich der menschliche Umgang mit diesem Tier geworden ist. Von langer kulinarischer Tradition zu industrieller Krakenzucht bis hin zu Tourismusstrategien und Tierschutzbewegungen.
Von Mitte Mai bis Mitte Juni dreht sich in El Grao de Castellón in der Region Valencia alles um den Oktopus und seine Verwandte, die Sepia. Zwölf Restaurants nehmen an den XI. Jornadas Gastronómicas del Pulpo y la Sepia teil, einer kulinarischen Veranstaltungsreihe.
Geboten werden kreative Interpretationen klassischer Meeresküche. Die Region setzt auf kulinarische Identität als Tourismusmagnet. Mit Events wie diesen wolle man sowohl das Küstenerbe als auch nachhaltige Fischereiprodukte fördern. Tatsächlich sind Meeresfrüchte aus Castellón ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und Pulpo sowie Sepia zählen zu den absoluten Aushängeschildern.
Derweil herrscht im Nordwesten Spaniens Stillstand. Im Frühsommer 2025 ist in ganz Galicien ein umfassendes Fangverbot für Oktopusse verhängt worden, so lange wie nie zuvor. Kein Pulpo sollte dreizehn Wochen lang gefangen, gelagert oder verkauft werden.
Selbst Freizeitschiffer unterliegen einer solchen Sperre. Ziel ist der Schutz der Laichzeit, in der die Weibchen ihre Eier ablegen.Das Verbot ist eine Reaktion auf drastische Rückgänge im Vorjahr. Bereits 2024 sank die Pulpo-Menge in den galicischen Häfen um mehr als 50 Prozent.
Die Preise stiegen auf Rekordniveau und die Fischer gerieten zunehmend unter Druck. Durch präventive Schonung soll sich das 2025 ändern. „Es ist eine zusätzliche Erholungsmaßnahme, um die Fischereitätigkeit an den Lebenszyklus anzupassen”, so das Meeresministerium der galicischen Regierung auf El País.
Dabei muss man wissen: Rund 2800 Boote sind allein in Galicien für die Pulpo-Fischerei zugelassen.
Die Krake und der Klimawandel
Fachleute wie Eduardo Almansa Berro und Catalina Perales-Raya (leitende Wissenschaftler/in am Spanischen Institut für Ozeanographie) warnen vor der Illusion solcher Fangverbote.
Der Pulpo ist sensibel gegenüber Temperaturveränderungen und laiche bei zu warmer See verzögert oder gar nicht.
Es ist der Klimawandel, der sich direkt auf den Reproduktionszyklus auswirkt. Ohne Klimapolitik hilft auch keine Schonzeit.
Mitten in diese Debatte um Fangmethoden und Bestände kommt auch ein anderes Thema wieder hoch, das bereits 2023 für Schlagzeilen sorgte: In Las Palmas de Gran Canaria will das Unternehmen Nueva Pescanova die weltweit erste kommerzielle Oktopus-Farm in Betrieb nehmen.
Bis zu 3000 Tonnen Pulpo sollen dort jährlich produziert werden, unter Laborbedingungen mit Kreislaufwasseranlagen und kontrollierter Fütterung.
Das Projekt ist aber hochumstritten. Mehrere NGOs, darunter Greenpeace und AnimaNaturalis, haben sich zu einer Allianz zusammengeschlossen, um den sofortigen Stopp der Farm zu fordern. Oktopussse sind hochintelligente Einzelgänger, die in kargen Becken psychisch und physisch leiden.
Die geplante Tötung durch Eiswasser, dokumentiert in geleakten Unterlagen, wird als grausam und inakzeptabel bezeichnet.
Auch die Tierschutzorganisation INTERCIDS reichte 2025 einen Gesetzesvorschlag ein, der industrielle Oktopus-Zucht in ganz Spanien verbieten soll.
Mehr als schmackhafter Arm auf dem Holzbrett
Auf den Kanaren, in Madrid und online formiert sich der Protest. Plakate mit der Aufschrift „No a la granja de pulpos” tauchen bei Demos, auf Straßenlaternen und in sozialen Medien auf. Der Oktopus ist plötzlich keine Delikatesse mehr, er ist ein Symbol für eine Grundsatzdebatte: Wie weit darf Tiernutzung gehen?
Und was schulden wir einem Wesen, das denken, erinnern und spielen kann? Denn wo früher lediglich ein schmackhafter Arm auf dem Holzbrett lag, sehen viele ein fühlendes Wesen mit Persönlichkeit.
Man könnte die Krake sogar als das erste literarische Missverständnis der Tiefsee bezeichnen.
„Below the thunders of the upper deep, / Far, far beneath in the abysmal sea…” – so beginnt Alfred Lord Tennyson sein Gedicht „The Kraken”, das 1830 erschien und bis heute als eines der geheimnisvollsten literarischen Darstellungen eines Tiefsee-Ungeheuers gilt. Der Krake schläft dort, traumlos, ewig, bis zu dem Tag, an dem die Welt endet.
Gut vier Jahrzehnte später ließ Jules Vernes in „20.000 Meilen unter dem Meer” seine Protagonisten gegen riesige Tentakelwesen kämpfen, die sich durch Fenster des Unterseeboots pressen und inmitten der Dunkelheit der Tiefsee zu leben scheinen. Für ihn war der Kraken weniger ein Tier als eine Projektionsfläche. Eine Figur für das Unbekannte.
Und H.P. Lovecraft? Der gab ihm ein Gesicht. Cthulhu, der schlafende Tentakelgott im Pazifik, war ein kosmisches Symbol für das, was Menschen nicht begreifen können.
Was ist, wenn der reale Oktopus, der echte lebende, zu beobachtende Octopus vulgaris, noch viel faszinierender ist als all diese Fabelwesen?
"Phantom der Tiefsee"
Der Gemeine Krake ist kein gewöhnliches Tier. Mit nur einem Gedanken verwandelt er sich in Stein oder Sand. In vielen literarischen Werken nennt man ihn auch das Phantom der Tiefsee, obwohl er realer nicht sein könnte. Er lebt kurz, aber intensiv. Zwischen einem und drei Jahren dauert sein Leben, je nachdem, wie die Umstände sind. Leider sind sie selten gut.
Obwohl er keinen Panzer, keine Zähne oder Klauen hat, ist er ein intelligenter, strategischer und überraschend einfühlsamer Räuber. Über 500 Millionen Neuronen stecken in seinem Körper. Zwei Drittel davon befinden sich in seinen Armen. Das heißt, er denkt nicht mit dem Kopf, er denkt mit jedem Tentakel. Wissenschaftler sagen, es sei, als hätte der Oktopus acht kleine Gehirne, die miteinander sprechen.
In Tests hat man gesehen, wie Oktopusse Gläser aufschrauben, sich durch enge Labyrinthe zwängen oder Werkzeuge benutzen. Ein Exemplar nutzte Kokosnussschalen, um daraus ein mobiles Versteck zu bauen. Ein anderer schleuderte gezielt Wasserstrahlen auf das Laborpersonal, das ihn reizte. Oktopusse handeln also wie Tiere mit Charakter.
Die Kommunikation vom Oktopus läuft über Farbe, Bewegung und Haltung. Er kann sich in Sekunden von Grau zu Blutrot färben, seine Haut aufrauen wie Lavagestein oder sie glätten wie Glas. Manche Arten, wie der Mimik-Oktopus, ahmen sogar giftige Tiere nach, wie zum Beispiel Seeschlangen, Rochen oder Feuerfische, nur mit Körperhaltung und Farbe. Das ist nicht einfach Tarnung. Das ist eine Täuschung mit System.
Die Fortpflanzung des Oktopus ist ein bittersüßes Drama. Nach der Paarung legt das Weibchen bis zu 200.000 Eier. Sie bleibt rund um die Uhr bei ihnen, schützt sie und beatmet sie mit frischem Wasser. Wenn die Jungtiere schlüpfen, stirbt das Weibchen. Auch das Männchen stirbt kurz nach der Paarung. Ein ganzes Leben für einen einzigen Fortpflanzungsakt.
Der Pulpo im Mittelalter
Der Oktopus hat es in seinem Leben generell nicht leicht. Kurze Überlebensdauer, steigende Meerestemperaturen und dann auch noch die Überfischung. Mit den sogenannten Nasas, den Korbfallen, holen die spanischen Fischer ihn aus dem Meer. Gerade in Galicien kommt es deshalb zur Überfischung, da der Pulpo zum kulturellen Gedächtnis gehört. Die berühmte pulpo á feira wird bei Volksfesten traditionell auf Holzscheiben mit Paprika und Öl serviert.
Man stelle sich das einmal vor: Tief im Inland, umgeben von galicischen Hügelketten, liegt das Kloster Oseira, wo das Meereswesen eine zentrale Rolle in der Geschichte spielt. Durch strenge Regeln im Kloster war es Mönchen verboten, rotes Fleisch zu verzehren. Ihr Schlupfloch war daher der Oktopus.
Was aus heutiger Sicht wie ein skurriler Nebensatz der Geschichte klingt, war damals eine logistische Herausforderung und eine kulinarische Initialzündung.
Es waren diese Mönche, die mit Paprika aus Portugal, Olivenöl aus dem Süden und dem Meerestier aus dem Nordwesten vermutlich das erste pulpo á feira zubereiteten. Das Gericht, das heute aus keiner spanischen Tapas-Bar mehr wegzudenken ist, wurde in einem Kloster geboren, das später das galicische Escorial genannt wurde.
Der Oktopus ist in Galicien also ein kulturelles Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Küste und Hinterland sowie Tradition und Moderne.
Der Pulpo als Delikatesse weltweit
Die Art, wie Menschen Oktopus zubereiten, essen und verstehen, ist weltweit erstaunlich unterschiedlich.
In Japan wird der Oktopus zum Beispiel roh oder lebendig serviert. Ein Ritual, das für westliche Gäste oft befremdlich wirkt. Dahinter steckt jedoch ein tief verwurzeltes Konzept von Frische, Kontrolle und Verbindung zum lebendigen Ursprung der Speise. In der japanischen Esskultur ist es nicht unüblich, dass das Essen „noch lebt“, um höchste Qualität zu garantieren.
In Griechenland hingegen begegnet man dem Oktopus oft hängend. Auf den Kykladeninseln sieht man ihn aufgespannt auf Holzgestellen in der Sonne trocknen, bevor er gegrillt wird. Diese traditionelle Methode entzieht dem Fleisch Feuchtigkeit, macht es zäher, aber auch geschmacklich intensiver, genauso wie es die Griechen lieben. Dort gilt der luftgetrocknete Oktopus als Teil der Meeresküche der Armen, aber auch als Symbol für das raue, salzige Leben an der Ägäis.
Spanien liebt seinen Oktopus aber besonders weich, schonend gegart und niemals zäh. Er wird rustikal auf Jahrmärkten angeboten, manchmal aber auch modern auf Sterne-Niveau.
Doch wie in jeder Geschichte gibt es eben das große ABER:
Beliebtheit hat einen Preis. Mit jährlich über 350.000 Tonnen Fang weltweit gehört der Oktopus zu den meistgehandelten Weichtieren. 26 Prozent dieser Importe gehen nach Spanien, die größtenteils aus Westafrika stammen. Dort wird eher weniger auf nachhaltige Fangmethoden gesetzt. Die Globalisierung hat den Zugang zu Meeresprodukten zwar erleichtert, doch wie weit darf Genuss gehen? Wie kann eine jahrhundertealte Küche mit der Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen in Einklang gebracht werden?
Vielleicht ist das eine dieser unbequemen Wahrheiten, die man lieber überliest. Dass Oktopusse Schmerz empfinden können, ist inzwischen wissenschaftlich belegt. Sie zeigen Fluchtverhalten, Reaktionen auf Reize und lernen aus unangenehmen Erfahrungen. Genau deswegen stehen sie mittlerweile in manchen Ländern unter besonderen Schutz als fühlende Wesen mit kognitiven Fähigkeiten.
Oh, oh Oberhausen
Manchmal vergessen wir dabei, wie nah uns dieser Meeresbewohner schon einmal war. Paul, der Krake aus Oberhausen, wurde während der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 zum globalen Medienphänomen.
Mit seinen instinktiv gewählten Siegertipps beweist er die faszinierende Intelligenz dieser Tiere.
Paul ist daher ein stiller Zeuge dafür, wie schnell wir bereit sind, einem Tier Gefühl und Bewusstsein zuzuschreiben, solange es uns unterhält. Aber wenn man weiß, dass ein Oktopus Entscheidungen trifft, kann man dann wirklich behaupten, er wisse nicht, was geschieht?
So erzählen die Nebenrollen oft die ehrlichere Geschichte
Es gibt Kinderbücher zum Oktopus. Und selbst beim Kinobesuch lohnt sich ein Blick nicht nur auf die Hauptfiguren. Denn manchmal versteckt sich die eigentliche Geschichte dort, wo niemand hinschaut. In Filmen sind Kraken selten leise.
Sie sind gigantisch, zornig und wenn sie auftauchen, kündigt sich meist nichts Gutes an. Die wohl bekannteste Darstellung ist zweifellos die in Fluch der Karibik, wo Davy Jones’ Krake mit peitschenden Tentakeln Schiffe zerreißt und als Symbol für Tod und Kontrollverlust inszeniert wird.
Denn der Oktopus, den wir heute wissenschaftlich als empfindsames, neugieriges Tier erkennen, bekommt in der Popkultur meist nur eine Rolle, die für Angst steht, Chaos stiftet und machtlos ist.
Dabei ist es spannend, was passiert, wenn sich Regisseure trauen, das Wesen der Krake anders zu erzählen.
Wie Davy Jones, dessen Körper als Metapher für eben jenes reale Wesen steht. Hinter dieser monströsen Erscheinung verbirgt sich ein Herz, das einst gebrochen wurde. Er liebt, leidet und fühlt. Doch weil er nicht damit umgehen kann, verwandelt sich sein Schmerz in Zorn.
Deshalb ist er die menschlichste Krake, die das Kino je gesehen hat.
Selbst auf den kleineren Leinwänden im spanischen Kino, taucht im Netflix-Film Elisa & Marcela der Oktopus plötzlich als flüchtiges, fast zärtliches Symbol auf.
Ein Sinnbild für weibliche Kraft, fluides Begehren und das Unsichtbare zwischen zwei Menschen.

Die Krake als Wesen statt als Ware
Sind das nicht die schönsten Widersprüche? Ein Tier, das wir oft nicht sehen, welches uns so viel über unsere Sichtweisen erzählt. Denn wer immer nur auf den Hauptdarsteller schaut, übersieht die kleinen Gesten in den Nebenrollen. Die Krake ist nie laut, nie heroisch, aber sie ist da.
Vielleicht ist es gerade in einem Land wie Spanien, wo Kultur, Küche und Küste so eng verwoben sind, an der Zeit, dem Oktopus mehr als nur eine Nebenrolle zu geben. Das aktuelle Fangverbot in Galicien zeigt: Es gibt ein wachsendes Bewusstsein für den Schutz mariner Lebensräume – ein Anfang.
Aber auf diesen ersten Schritt muss mehr folgen. Es braucht neue Gesetze, bessere Kontrollen, transparenten Handel und vor allem eine Debatte, die nicht nur unter Wissenschaftlern geführt wird, sondern mitten in der Gesellschaft ankommt.
Denn wenn ein Land wie Spanien mit seiner Liebe zum Meer, seiner kulinarischen Identität und seinen starken Regionen einen Wandel anstößt, dann könnte daraus etwas entstehen, das weit über die eigenen Küsten hinaus Bedeutung hat.
Es muss auch nicht darum gehen, den Pulpo nicht mehr zu feiern, sondern ihn anders zu feiern. Nicht als Ware, sondern eben als Wesen. So könnte eine neue Tradition entstehen: eine, die stolz auf ihre Vergangenheit ist, aber auch Platz für die Zukunft hat.
Die Autorin
Alina Brammer ist Mitarbeiterin dieses Magazins.
Von ihr stammt u.a. auch der viel gelobte Artikel Schutz für den iberischen Luchs.
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