El Silbo: Das Zwitschern verstummt nicht
Wenn der Wind auf La Gomera günstig steht, hört man den Rufenden auch zehn Kilometer weiter. Seit Jahrhunderten ermöglicht die Pfeifsprache die Kommunikation über die tiefen Schluchten der Insel hinweg. El Silbo hat schon einen Sprachwechsel überlebt, nun muss sie sich im lauten Alltag behaupten.
von Alida Bonmann
Auf der Kanarischen Insel La Gomera pfeifen nicht nur die wilden Kanarienvögel. Die Landschaft mit ihren Schluchten und schallreflektierenden Felswänden begünstigt seit Jahrhunderten die Nachrichtenübermittlung mit der europaweit einzigen Pfeifprache El Silbo, die bei günstigem Wind bis zu zehn Kilometer weit zu hören ist. Und so gibt es in Spanien neben Kastilisch, Galicisch, Katalanisch und Baskisch auch diese Variante.
Die lauteste Verständigung ohne Hilfsmittel
Diese pfiffige Art der Kommunikation klingt wie Zwitschern, erinnert an den melodischen Gesang von Kanarienvögeln. Die Pfeifensprache kam womöglich vor etwa 500 Jahren mit den geheimnisvollen Ureinwohnern, dem Guanchenvolk, aus Marokko auf die Kanaren. Nicht nur in Nordafrika, überall waren Menschen erfinderisch, wie sie über große Entfernungen Nachrichten übermitteln können: Die Indianer benutzten Rauchzeichen, Afrikaner Buschtrommel.
El Silbo (spanisch „der Pfiff“) wiederum ist eine artikulierte Sprache mit zahlreichen einzelnen Lauten, die mit je vier Vokalen (a, e, i, o) und Konsonanten (ch, k, y, g) auskommt.
Die einzelnen Laute unterscheiden sich durch ansteigende oder absteigende Töne und Pausen. Ursprünglich pfiffen die Inselbewohner noch in der Sprache der Guanchen, nach der Eroberung der Spanier im 15. Jahrhundert wechselten sie auf das Spanische.
Dank dieser Flexibilität von El Silbo trillern die Insulaner in verschiedenen Dialekten. Noch bis in die 1960er Jahre gab es in vielen Dörfern nicht einmal Strom, so erfuhren die Menschen wichtige Neuigkeiten über die Täler weg in der Pfeifsprache.
Abends, wenn die Leute zu Hause waren, klang es auf der Insel wie in einem riesigen Vogelkäfig.
Besonders wichtige Nachrichten gab ein offizieller Silbadore (Pfeifer) weiter. Da die ganze Insel nur 28 km lang und 17 km breit ist, erfuhr die gesamte Inselbevölkerung in Windeseile über Todesfälle und Geburten.
Orte der Stille
Die immergrüne Vulkaninsel hat eine atemberaubende Naturkulisse mit tiefen Schluchten, steilen Felswänden und urwüchsigen Wäldern. In Chipude, einem Bergdorf in fast 1000 Meter Höhe in der Nähe des Nationalparks, leben kaum 50 Menschen.
Hier ist die Ruhe fast greifbar, Autos und Fußgänger sind selten. Geht jemand durch den Ort, klingen seine Schritte ungewohnt laut. Ältere Bewohner schätzen noch das Inselsprichwort „Je älter du wirst, desto besser pfeifst du“.
Das bedeutet, dass man mit dem Älterwerden seine Beine schont, weil man alles per Pfiff erledigen kann. Wenn es beim Trillern zu Unklarheiten kommt, greifen die Silbadores doch zum Handy.El Silbo lernten die Kinder auf La Gomera von ihren Eltern.
Diese Zweitsprache verdrängte nach und nach nicht nur die Verbreitung des Telefons. Die Geräusche des Alltags wie Motorenlärm machen die Verständigung per Pfiff auch immer schwieriger: In den ruhelosen Städten und größeren Orten war El Silbo schon vor Jahrzehnten ausgestorben.
1982, in letzter Sekunde, setzte die UNESCO El Silbo auf die Liste der zu schützenden Weltkulturgüter: Damals beherrschten nur noch ein Handvoll Silbadores fließend die Pfeifsprache.
Diese waren Ziegenhirten, die sich über die vielen Schluchten auf der Suche nach verloren gegangenen Tieren El Silbo benutzten und auch mit der Familie und Freunden trällerten.
Anpfiff an den Schulen
Heutige Silbadores sind meist entweder sehr alt oder sehr jung: Seit 1999 ist El Silbo Wahlfach an allen Grundschulen La Gomeras, ab dem Schuljahr 14/15 Pflichtfach. Die Gomerer sind stolz auf ihr kulturelles Erbe. Ein Grund dafür ist, dass die Insulaner El Silbo stets als Mittel zum Widerstand gegen die Autoritäten einsetzten. "Wenn manche Einwohner von La Gomera von der Guardia Civil verfolgt wurden, riefen sie schnell auf Silbo: 'Pass auf, hier kommt die Guardia Civil und sucht dich! Versteck dich!'", erzählt Isidro Ortiz, ein 80jähriger Sprachlehrer, der El Silbo sein ganzes Leben lang benutzt hat. Nicht nur zur Warnung von Freunden, auch im spanischen Bürgerkrieg und in den Zeiten der Franco-Diktatur kommunizierte man zügiger per Pfeifensprache. Leider kamen die Nachrichten genauso schnell beim Feind an, die ebenfalls Silbadoren anheuerten. Neben Isidro Ortiz gibt es gegenwärtig auf Gomer nur zwei Sprachlehrer, die Ausbildung weiterer Lehrer hat aber bereits begonnen. So pfeifen schon bald auch Kinder – auch die deutscher Einwanderer - nicht mehr auf den Unterricht, sondern im Unterricht.
Die Autorin
Alida Kresz-Bonmann hat unter anderem Sprachwissenschaften studiert. Als Redakteurin und Lektorin hat sie mehrere Schulbücher für ihre Zweitsprache, Deutsch, herausgegeben. Ihre Kinder wachsen bilingual auf.